Welche Probleme kommen typischerweise auf einen Teenager mit Hämophilie und dessen Eltern zu?

Die Pubertät (13 bis 17 Jahre) ist für alle Teenager eine Zeit großer körperlicher, emotionaler und sozialer Veränderungen. Es besteht ein erhöhtes Bedürfnis nach mehr Unabhängigkeit und Kontrolle über ihr Leben und nach einer guten Integration in den Kreis ihrer Freunde. Sie übernehmen auch neue Aufgaben wie für ihre Gesundheitsbedürfnisse Sorge zu tragen, sich selbst zu spritzen, ihr Hämophilietagebuch zu führen und ihren schulischen Verpflichtungen nachzukommen. Tatsächlich können viele Kinder sogar schon vor der Pubertät mit dem Tagebuch-Führen und der Selbstinfusion beginnen. Das Erlernen dieser Fähigkeiten kann zu mehr Kontrolle, Unabhängigkeit und Selbstachtung führen. Dennoch kann das Bedürfnis, mit anderen Teenagern Sportarten und körperliche Aktivitäten zu teilen, zu viele Herausforderungen und zu riskantem Verhalten führen.

Die Akzeptanz von Gleichaltrigen - sich seinen Freunden und Klassenkameraden anzupassen - wird sehr wichtig. Teenager können sehr empfindlich bezüglich ihres Körperbildes und ihres Männlichkeits-gefühls sein. Manche Teenager empfinden Ärger, weil sie sich anders und ausgesondert fühlen. Einige lehnen Hämophilie ab, indem sie Standardrichtlinien und Vorsichtsmaßnahmen für die routinemäßige medizinische Versorgung ignorieren und Blutungen verbergen, die einer Behandlung bedürfen. Jugendliche können emotionalen Stress spüren. Einige Teenager scheuen enge Beziehungen zu männlichen und weiblichen Freunden, weil sie Angst haben, ihren Gesundheitszustand offenbaren zu müssen. Es kann sehr schwierig sein, Ihren Sohn davon zu überzeugen, dass die Hämophilie sein Leben nicht bestimmt.


Nach der Grundschule wollte er der Schule nichts mehr von seiner Krankheit mitteilen, um dieses Außenseiter-Gefühl zu vermeiden. Du siehst, das Problem ist, dass Lehrer zu Überreaktionen neigen und ausflippen.

Diese Jahre waren für uns beide schwierig. Ich bin alleinerziehende Mutter - es gibt nur uns beide. Mein Sohn versuchte, wie alle anderen zu sein, und begann, gegen Behandlungen zu rebellieren. Er weigerte sich, über seine Blutungen zu sprechen und traf einige sehr schlechte Entscheidungen. Wir haben es geschafft, aber es war hart. 

Ich habe mich zum ersten Mal selbst gespritzt, als ich sieben Jahre alt war. Bis dahin waren mein Vater und meine Krankenschwestern die einzigen, die mich gespritzt hatten. Vor ein paar Monaten hat mich meine hier abgebildete Freundin gespritzt. Ich hatte sie immer wieder gebeten, es zu versuchen und schließlich hatte sie nachgegeben. Ich war nervös - aber ich sagte es ihr nicht. Es war hart, aber schlußendlich haben wir die Ader getroffen, was das ultimative Ziel war. Es war eine großartige Erfahrung für mich und ich fühlte mich dem Mädchen, das ich liebe, noch näher.

Es ist wichtig, ihm beizubringen, dass er die Gestaltungsmacht über seine Hämophilie übernehmen kann und dass er sie nicht ignorieren kann. Das muss ihm schon frühzeitig, vor den Teenagerjahren vermittelt werden. Ein Kind, das ermutigt wurde, über seine Gefühle in Bezug auf Hämophilie zu sprechen und gelernt hat, wie man gut auf seinen Körper aufpasst und sichere Aktivitäten auswählt, wird wahrscheinlich besser mit den Herausforderungen der Teenagerzeit umgehen können. Tatsächlich gibt es viele Teenager mit Hämophilie, die sehr gut zurechtkommen. Ihre Akzeptanz der Störung und die daraus resultierende Reife ermöglichen es ihnen, weit über ihre Grenzen hinauszugehen. Ihre Fähigkeit, die Herausforderung der Hämophilie zu bewältigen, überträgt sich auf andere Bereiche. Sie führen ein erfülltes und aktives Leben.

Wenn ihr Kind Schwierigkeiten hat, sich zu behaupten, kann das auch die Eltern eine schwierige Zeit sein. Die Eltern haben möglicherweise den Eindruck, dass ihr Kind keine guten Entscheidungen trifft. In diesen Jahren der Reifung ist es für die Eltern von wesentlicher Bedeutung, ihren Sohn im Auge zu behalten, um sicherzustellen, dass geeignete Entscheidungen in Bezug auf Infusionen, Infusionstechniken und Tagebuchführung getroffen werden. Dies ist ein kritischer Zeitraum, in dem Sie all das Wissen, das Sie im Laufe der Jahre vom Team Ihres Gerinnungs-/Hämophiliezentrums vermittelt bekommen haben, an Ihr Kind weitergeben. Nehmen Sie jede Gelegenheit wahr, um ihn zu fragen, wie er mit die Behandlungsrichtlinien des Gerinnungs-/Hämophiliezentrums umsetzt und diese mit ihm weiderholt durchzugehen. Denken Sie daran, dass Ihr Behandlungsteam wichtige Unterstützung leisten kann, insbesondere in den Teenagerjahren, wenn Ratschläge von Eltern möglicherweise weniger willkommen sind. Es gibt kein magisches Erfolgsrezept. Es ist hilft, Ihr Kind gut zu kennen und gemeinsameinen eigenen Weg zu entwickeln, um sicherzustellen, dass er alle nötigen medizinischen Hilfen in Anspruch nimmt und dies sicher und effektiv tut.

Dies ist eine Zeit, in der Ihr Kind höchstwahrscheinlich davon profitiert, sich mit anderen von Hämophilie betroffenen Teenagern und Erwachsenen auszutauschen. Die Teenagerzeit kann verwirrend sein. Sie ist durch das Bedürfnis geprägt, sich anzupassen und akzeptiert zu werden. Sich mit anderen zu verbinden, welche die gleichen Probleme haben kann da echt helfen. Ihr Sohn wird sehen, dass er nicht allein und nicht der Einzige ist, der die Gefühle hat, die er hat.

Manche Institutionen organisieren Wochenenden für von Hämophilie betroffene Familien und spezielle Programme für Jugendliche. Diese sind eine natürliche Fortsetzung der Hämophilie-Sommerlager für Kinder. Nutzen Sie diese Möglichkeiten auch dann, wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Sohn gut mit seiner Gesundheit umgeht. Die Möglichkeit, sich mit anderen Familien und Jugendlichen zu treffen, bietet unschätzbar wertvolle Unterstützung. Diese Programme sind so gestaltet, dass sie das Geben und Nehmen unter Kindern derselben Altersgruppe fördern. Stellen Sie sich vor, wie gut es Ihrem Sohn täte, wenn er einem anderen Jugendlichen helfen konnte, mit etwas zurecht zu kommen, das Ihr Sohn schon verstehen gelernt hat.

Die Teilnahme an Workshops kann Ihrem Kind auch viel über den Umgang mit Menschen beibringen, ihm Selbstvertrauen und Wissen vermitteln und in einer unterhaltsamen Umgebung Perspektiven bieten. Im Laufe der Zeit kann er sich sogar dafür entscheiden, sich in der Hämophilie-Community in Deutschland Jugendliche sind heutzutage mehr und mehr im Internetunterwegs. Sie können miteinander über Social Media chatten und weltweit Freundschaften schließen. 

Wenn Ihr Kind die Teenagerjahre erreicht, ermutigen Sie es, sich selbst zu informieren, in seinem eigenen Tempo. Stellen Sie ihm von Zeit zu Zeit Fragen, um zu überprüfen, was er gelernt und sich gemerkt hat.

Alkohol- und Drogenkonsum

Der Missbrauch von Alkohol- und Drogen stellt für alle Teenager eine Bedrohung dar. Besonders betroffen sind Familien mit solchen Kindern, die verzweifelt versuchen, dazu zu gehören sowie mit Kinder, die schnell frustriert und unzufrieden sind. Drogen und Alkohol beeinträchtigen das Urteilsvermögen und erhöhen die Risikobereitschaft. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit schwerer Verletzungen, was besonders für Eltern von Teenagern mit Hämophilie ein Problem darstellt.

Diese Themen auch schon in einem früheren Alter zu diskutieren, hilft Ihrem Sohn sich darauf vorzubereiten, später, wenn es darauf ankommt, gute Entscheidungen treffen zu können. Die positive und vertrauensvolle Art des hier beschriebenen Umgangs mit Hämophilieproblemen lässt sich auch auf das Drogen- und Alkoholthema übertragen. Und auch hierbei hilft Ihnen wieder Ihr Gerinnungs-/Hämophiliezentrum - wenn Sie dort nachfragen.

Es ist sehr wichtig, sich als Familie regelmäßig Zeit zu nehmen, um über alle Ereignisse im Leben Ihres Kindes zu sprechen - anstatt nur über Hämophilie. Offenheit und Zuhören sind für Ihre Beziehung und für die Pflege des Vertrauens Ihres Sohnes zu Ihnen sehr wichtig. Solche Gespräche werden Ihren Stress und Ihre Ängste (zumindest ein wenig) abbauen helfen und gleichzeitig Ihren Sohn dabei unterstützen, selbstbewusst und unabhängig zu werden.

Piercings und Tätowierungen

Piercings und Tätowierungen sind bei jungen Menschen sehr beliebt. Jede/r, der/die sich sowas machen lässt, setzt sich einem Risiko aus, unabhängig davon, ob er an Hämophilie leidet oder nicht.

Das Risiko, sich dabei über nicht ordnungsgemäß gereinigte Nadeln und Geräte mit etwas zu infizieren, das durch Blut übertragen wird, ist niemals gleich Null. Viele Tattoo- und Piercingläden arbeiten nicht wirklich steril. Dazu kommt die Gefahr von Blutungen durch Tätowierungen oder Piercings - und so kann auch so ein ganz einfaches Vorhaben zu einer komplizierten, unangenehmen Erfahrung werden.

Wenn Ihr Teenager sich dazu entschlossen hat, sich tätowieren oder irgendwo piercen zu lassen, kann es sein, dass sie mit simplen Verboten bei ihm nicht mehr weiterkommen. In einem solchen Fall können Sie versuchen, ihn mit gesundem Menschenverstand zu unterstützen.

  • Schlagen Sie vor, dass er wartet, bis er älter ist. (Ein seriöser Laden tätowiert niemanden unter 18 Jahren ohne die schriftliche Erlaubnis der Eltern.)
  • Lassen Sie ihn dazu recherchieren, wie ansteckende Viren wie HIV, Hepatitis B und Hepatitis C übertragen werden können. Das Internet ist eine gute Quelle für solche Informationen. Auch der/die KrankenpflegekoordinatorIn Ihres Gerinnungs-/Hämophiliezentrums kann Ihnen entsprechende Veröffentlichungen und Ressourcen zur Verfügung stellen.
  • Bestehen Sie darauf, dass er die (Online-)Bewertungen des Tattoo-Shops überprüft.
  • Bestehen Sie darauf, dass er herausfindet, wie der/die TätowiererIn dafür Sorge trägt, dass es nicht zu durch Blut übertragene Infektionen kommen kann.
  • Bestehen Sie darauf, dass er sich vor dem Eingriff mit Faktorenkonzentrat behandelt. Achten Sie auf Anzeichen von Schwellungen oder Blutungen in der Umgebung und behandeln Sie diese gegebenenfalls erneut.
  • Wenden Sie sich an das Team Ihres Gerinnungs-/Hämophiliezentrums.


Sexualität

Wenn Sie in jungen Jahren beginnen, mit Ihrem Kind über Beziehungen zu sprechen, können Sie alle sich auf diesen Teil seines Erwachsenwerdens vorbereiten. Offene Gespräche über Sexualität und Beziehungen helfen Ihrem Kind, die Komplexität von Beziehungen zu verstehen, einschließlich solcher Konzepte wie Respekt, Alternativen und Konsequenzen.

Ganz egal, was Sei als Elternteil davon halten - Ihr Sohn kann in diesen Jahren beginnen, sexuell aktiv zu werden. Die Trends in der Gesellschaft weisen in die Richtung, dass Kinder in jüngeren Jahren sexuell aktiv werden. Manchmal haben Teenager mit Hämophilie Angst vor Sex und Blutungen beim Geschlechtsverkehr. Das kommt selten vor. Es ist jedoch wichtig, Ihr Kind so zu erziehen, dass es den Herausforderungen dieser Jahre so gut wie möglich begegnet. Dazu gehört auch, dass Sie ihm bei der Entscheidung helfen, ob er schon bereit ist, Sex zu haben. Mit oder ohne Hämophilie basiert diese Entscheidung auf vielen Faktoren, einschließlich Werten, religiösen Überzeugungen und psychologischer Bereitschaft.[YD1]  Sprechen Sie mit ihm über Verhütung und sexuell übertragbare Krankheiten. Um dabei Unterstützung zu erhalten, können Sie auch mit seiner/seinem Ärztin/Arzt, seinem/seiner KrankenpflegerIn und/oder seinem/seiner SozialarbeiterIn sprechen. Ihr Sohn sollte auch wissen, dass die MitgliederInnen seines Hämophilie-Betreuungsteam es begrüßen, wenn er das Gespräch zu diesen Themen mit ihnen sucht.

Fazit

Bis zur Pubertät haben viele Jungen durch Versuch und Irrtum herausgefunden, was welche Aktivitäten bei ihnen sicher sind und welche zu einer Blutung führen. Viele Jungen, die regelmäßig vorbeugen, haben gesunde Gelenke und einen aktiven Lebensstil. Einige Jungen entscheiden sich, sich nur dann mit Faktor zu behandeln, wenn dies notwendig ist. Sie spritzen sich beim ersten Anzeichen einer Blutung oder bevor sie Sport treiben.

Andere Jungen werden mit ihrer Hämophilie zu kämpfen haben. Sie sind in ihren Aktivitäten und ihrem Lebensstil eingeschränkter und haben trotz guter Versorgung einige Gelenkschäden. Dann ist besondere Sorgfalt erforderlich, um weitere Gelenkprobleme der in Zukunft zu vermeiden.

Am wichtigsten ist: Hören Sie Ihrem Sohn zu. Lassen Sie ihn seine Gefühle ausdrücken ohne Ihre Meinungen hinzuzufügen. Ähnlich wie er als Kleinkind stürzte und Beulen und blaue Flecken bekam, stößt er jetzt als Teenager auf Stolpersteine. Lassen Sie ihn aus seinen Fehlern und Erfahrungen lernen, während er unabhängiger wird. Auf diese Weise lernt er auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das beinhaltet auch die Behandlung seiner Hämophilie.

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AutorInnen:

Claudine Amesse, RN, Nurse Coordinator, Centre d’hémostase, CHU Sainte-Justine,

Montreal, Quebec

Suzanne Douesnard, Ph. D. Psych. Hematology / Oncology Program, CHU Sainte-Justine, Montreal, Quebec

Georges-Étienne Rivard, M.D., FRCPC. Director, Centre d’hémostase, CHU Sainte-Justine, Montreal, Quebec

Helene Zereik, Mutter von zwei Kindern, darunter ein Junge mit Hämophilie,

Montreal, Quebec

Übersetzter Auszug aus: `All About Hemophilia – A Guide for Families‘, © Canadian Hemophilia Society, 2010

Wir danken der `Hemophilia Society Canada‘ für die großzügige Genehmigung, das Buch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen zu dürfen.

Übersetzung durch Yves Douma, Medical Writer der CRC GmbH, Duisburg