Gemeinsame Stellungnahme der Deutsche Bluthilfe e.V. und der Interessengemeinschaft Hämophilere.V. zum Editorial des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (KVS), Herrn Dr. med.Klaus Heckemann, in der Ausgabe 05-06-24 der KVS-Mitteilungen

Wir von den Patientenorganisationen der Deutschen Bluthilfe e.V. und der Interessengemeinschaft Hämophiler e.V. haben es uns zur Aufgabe gemacht, Menschen mit meist angeborenen Erkrankungen des Blutgerinnungssystems dabei zu unterstützen, ein möglichst gutes und selbstbestimmtes Leben zu führen. Eine der größten Hürden auf dem Weg zu einem solchen Leben ist für die von uns vertretenen Menschen die genetische Diskriminierung, also eine Haltung, nach der Menschen aufgrund vermuteter oder nachgewiesener genetischer Merkmale anders behandelt, stigmatisiert oder ausgegrenzt werden.
Ein aktueller, erschreckend unverblümter Fall genetischer Diskriminierung ist das Editorial zum Thema Humangenetik des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (KVS), Dr. med. Klaus Heckemann, in der Ausgabe 05-06-24 der KVS. Nachdem der Allgemeinmediziner Heckemann in der Vergangenheit bereits mehrfach mit Stellungnahmen zu den Themen Genderpolitik und Klimawandel heftige Kritik auf sich gezogen hat, hat er mit diesem Editorial eine Grenze überschritten, jenseits derer er als Vorsitzender einer Ärztevertretung nicht mehr tragbar ist. Obwohl Heckemann selbst einräumt, dass dafür derzeit keine Notwendigkeit bestehe, stellt er Überlegungen und sogar Berechnungen an, wie die Fortschritte der Humangenetik genutzt werden könnten, um die Weitergabe schwerer Erbkrankheiten zu verhindern – oder sollte man sagen „auszurotten“? Schließlich gibt Heckemann selbst zu, dass er mit seinen Ausführungen auch ethische Fragen berührt und Eugenik betreibt – allerdings schränkt er ein, dass die von ihm vertretene Eugenik nur „Eugenik im besten und humansten Sinne“ sei. Dass Heckemann damit letztlich einer Nazi-Ideologie das Wort redet – darauf haben bereits andere aufmerksam gemacht, so wie z.B. die KV Sachsen selbst als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus DIE DRESDNER. Seinen Posten als Chef der KV Sachsen wird Heckemann wohl bald räumen müssen. Doch so wahrscheinlich Heckemanns Abberufung auch erscheinen mag – wir müssen den angerichteten Schaden begrenzen, indem wir Heckemanns Aussagen über die von uns vertretenen Patienten einem Faktencheck unterziehen und seiner genetischen Diskriminierung klar entgegentreten.
Heckemann stellt sieben Behauptungen über die Hämophilie auf, denen wir im Folgenden die wissenschaftlichen Tatsachen und wissenschaftliche Literatur gegenüberstellen:

  1. Behauptung: Es gäbe kaum Behandlungsmöglichkeiten für Hämophilie.
    Fakten: Seit Anfang der 70er Jahre gibt es die prophylaktische und die Bedarfstherapie mit Faktorersatzpräparaten, die die Symptome in Schach halten. Die Entwicklung geht weiter, und inzwischen gibt es sogar eine gentherapeutische Behandlungsmöglichkeit für Hämophilie. Zumindest in Ländern mit solidarischen Krankenversicherungssystemen steht diese Behandlung jedem Patienten zur Verfügung.
    Literatur: Garagiola und Peyvandi 20151
  2. Behauptung: Hämophilie-Behandlung sei extrem teuer.
    Fakten: a) Studien zur Kosteneffektivität weisen eine signifikante Varianz der Therapiekosten pro Patienten und Jahr auf, wobei die Kosten zwischen 4.772 $ und 109.776 $ schwanken.
    b) Für die Behandlung von schwerer Hämophilie A lässt sich ein durchschnittliches inkrementelles Kosten-Effektivitäts-Verhältnis von ca. 86.000 $ pro gewonnenes qualitätsadjustiertes Lebensjahr (QALY) ermitteln, das mit der Behandlung von anderen selteneren Erkrankungen vergleichbar ist.
    c) Es ist zu erwarten, dass Fortschritte in der Gentherapie zu einer deutlichen Reduktion der Kosten für die Hämophilie-Therapie führen werden.
    d) Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes sagt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Wir leben also in einem solidarischen System, dass es sich zum Ziel erklärt hat, allen seinen Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen, auch den chronisch Kranken, unbeachtet von den Kosten.
    Literatur: Thorat et al. 20182; Bolous et al. 20213; Chen et al. 20234; Deutsches Grundgesetz

  1. Behauptung: Hämophilie-Behandlung sei mit Nebenwirkungen verbunden.
    Fakten: Die Hämophilie-Therapie hat seit den 1970er Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Mit Ausnahme einer kurzzeitigen Beeinträchtigung der Sicherheit, die durch verunreinigte Plasma-Ersatzprodukte im Kontext des sogenannten Aids-Skandals verursacht wurde, waren sämtliche Behandlungsmodalitäten bisher praktisch nebenwirkungsfrei. Eine jüngere Beobachtungsstudie hat zudem gezeigt, dass auch der Übergang von älteren zu jüngeren Therapieformen sicher ist.
    Literatur: Franchini und Mannucci 20165; Santoro et al. 20236
  2. Behauptung: Hämophilie-Patienten hätten eine stark verkürzte Lebenserwartung.
    Fakten: Studien belegen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei Hämophilie nur noch geringfügig unter der von gesunden Personen liegt und sich durch den medizinischen Fortschritt weiterhin verbessert. So zeigte beispielsweise eine niederländische Studie von 2020, dass die Lebenserwartung von Hämophiliepatienten in den Niederlanden sich seit 2002 um 11 Jahre verlängert hat, während sie in der allgemeinen männlichen Bevölkerung lediglich um 4 Jahre anstieg.
    Literatur: Hassan et al. 2021;7 Kloosterman et al. 20208
  3. Behauptung: Hämophilie-Patienten hätten eine stark eingeschränkte Lebensqualität.
    Fakten: Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (HRQoL) resultierten in der Vergangenheit in erster Linie aus den signifikanten Gelenkproblemen und den daraus resultierenden Schmerzen der Patienten. Dank der signifikanten Fortschritte in der medizinischen Forschung und Praxis können Patienten mit schweren Formen der Hämophilie heute ein nahezu normales Leben führen. Es besteht sogar die Empfehlung, regelmäßig Sport zu treiben und sich so zu bewegen, wie es für Menschen ohne diese Erkrankung üblich ist.
    Literatur: Kennedy et al. 2021; Gualtierotti et al. 2021; Escobar et al 2022
  4. Behauptung: Würde mithilfe der Gendiagnostik die Geburt von Mädchen verhindert, die das Hämophilie-Gen in sich tragen, könnte die Weitergabe der Hämophilie an männliche Kinder effektiv unterbunden werden.
    Fakten: a) Adolf Hitler schrieb in „Mein Kampf“: „Er“ [der völkische Staat] „muß dafür Sorge tragen, dass nur wer gesund ist, Kinder zeugt, dass es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen.“ Bevor die Nazis den Begriff Eugenik verwendeten, nannte man das in Deutschland „Rassenhygiene“.
    b) Die Mutter war auch schon für Adolf Hitler die Hauptverantwortliche für „Rassenunreinheit“ und daher besondere Adressatin seiner Bemühungen um die „Rassenhygiene“ – so sagte Adolf Hitler „“Mit jedem Kind, das die Frau der Nation zur Welt bringt, kämpft sie ihren Kampf für die Nation.“
    c) Das Hämophilie-Gen wird von beiden Elternteilen weitervererbt.
    d) Während man bis vor einigen Jahren noch glaubte, dass sogenannte Konduktorinnen selbst grundsätzlich symptomfrei seien und nur ihre Söhne anstecken würden, wissen wir heute aus immer mehr Studien, dass der Konduktorinnen-Status in weniger als 50% der Fälle symptomfrei ist. Der
    größte Anteil der betroffenen Frauen hat die gleichen, teilweise durchaus ernsten Symptome wie ein Mann mit milder Hämophilie.
    Literatur: Zehnpfennig 20069 ; Deutsches Historisches Museum 202410; Van Galen et al. 202111
  5. Behauptung: Eltern müssten vom Staat davor geschützt werden, darunter zu leiden ein Kind mit Hämophilie zu haben.
    Fakten: a) In der Forschung zur Belastung von Eltern von Kindern mit Hämophilie – oder anderen Erkrankungen und Behinderung – wird zwischen den Konzepten des „Leidens“ und des „Stresses“ unterschieden.
    b) Die Forschung zeigt, dass Eltern oft Wege finden, mit den psychologischen und praktischen Herausforderungen der Erziehung eines Kindes mit Hämophilie umzugehen, was eher auf eine Anpassungsfähigkeit als auf einen Bedarf an staatlichem Schutz hinweist.
    c) In einer Vielzahl von Berichten betroffener Eltern wird deutlich, dass sie an dieser Herausforderung wachsen und die Erfahrung, Eltern eines chronisch kranken oder behinderten Kindes zu sein, nicht missen wollen.
    d) Die überwiegende Mehrheit der betroffenen Eltern liebt ihre Kinder trotz deren Erkrankung oder Behinderung sehr und erlebt auch zahlreiche glückliche Momente oder gar Phasen mit ihnen.
    e) Studien legen nahe, dass psychoedukative Maßnahmen, welche auch die Aufklärung des sozialen Umfeldes beinhalten, sowie eine gezielte soziale Unterstützung die gesundheitsbezogene Lebensqualität der betroffenen Familien verbessern können.
    Literatur: 12Bottos et al. 200712; Wiedebusch et al 200813; Makki und Nikmanesh 201814;
    Jenaro et al. 202015; Cheng und Lai 202316

Zusammenfassend lässt sich zu Heckemanns Äußerungen über die Hämophilie zweierlei sagen: Zum einen stellt er die Hämophilie so dar, als sei er mit seinem Wissen über die Hämophilie mehr als 40 Jahre zurück; zum anderen hat er diese Äußerungen wohl beispielhaft für alle möglichen angeborenen Erkrankungen gemeint. Letztlich laufen Heckemanns Fabulationen darauf hinaus, den Eltern, deren Erbinformationen nicht der Norm entsprechen, davon abzuraten, Kinder zu zeugen bzw. Kinder auszutragen. Eine solche Vorgehensweise würde dazu führen, diesen Menschen klar zu machen, dass sie und ihre Nachkommen in der Welt weniger erwünscht sind als Menschen mit der Norm entsprechenden Erbinformationen – also auf genetische Diskriminierung. Wir möchten klarstellen, dass wir die Nutzung genetischer Diagnostik zur Diagnosesicherung und zur Bestimmung der besten Therapieoption für unsere Betroffenen befürworten. Die genetische Diagnostik hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und ermöglicht es, schneller und präziser – gerade in den Seltenen Erkrankungen – eine Diagnose zu stellen, was entscheidend zur Verbesserung der Lebensqualität beiträgt. Wir schätzen diese technologischen Entwicklungen, weil sie den Betroffenen Klarheit und der Ärzteschaft gezielte und ideale
Behandlungsmöglichkeiten bieten. Die Eugenik von Heckemann aber basiert auf Annahmen, die größtenteils nicht den Fakten entsprechen und vor allem nicht am Menschenwohl, sondern an ökonomischen Erwägungen orientiert sind. Wir lehnen jede Form der genetischen Selektion aus ökonomischen Gründen ab. Für uns steht außer Frage, dass jedes Leben lebenswert ist und dass die Würde des Menschen unabhängig von genetischen Merkmalen unantastbar bleibt. Würden wir als Gesellschaft beginnen Menschen nach ihrer genetischen Beschaffenheit zu bewerten und gar zu selektieren, würden wir unsere humanitären Grundwerte aufgeben. Die Vorstellung, dass genetische Diagnostik in einem „besten und humansten Sinn“ zu einer modernen Form der Eugenik führen könnte, ist letztlich verfassungswidrig – heißt es doch gleich schon im ersten Absatz des ersten Artikels: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Vielfalt menschlichen Lebens eine Bereicherung darstellt und der Wert menschlichen Lebens nicht an genetischen Merkmalen oder möglichen Kosten festgemacht werden darf. Wir verurteilen die Veröffentlichung Heckemanns und die ihr zugrunde liegende genetische Diskriminierung auf das Schärfste und fordern den Rücktritt und die Abberufung von Dr. med. Klaus Heckemann vom Amt des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen (KVS).

Referenzen

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  2. Thorat T, Neumann PJ, Chambers JD. Hemophilia Burden of Disease: A Systematic Review of the Cost-Utility Literature for Hemophilia. J Manag Care Spec Pharm.
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    Blood. 2021;138(18):1677-1690. doi:10.1182/blood.2021010864
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  6. Santoro C, Fuh B, Le PQ, et al. Efficacy and safety in patients with haemophilia A switching to octocog alfa (BAY 81-8973): Final results of the global real-world study, TAURUS. Eur J Haematol. 2023;110(1):77-87. doi:10.1111/ejh.13876
  7. Hassan S, Monahan RC, Mauser-Bunschoten EP, et al. Mortality, life expectancy, and causes of death of persons with hemophilia in the Netherlands 2001–2018. J Thromb Haemost. 2021;19(3):645-653. doi:10.1111/jth.15182
  8. Kloosterman F, Zwagemaker A, Abdi A, Gouw S, Castaman G, Fijnvandraat K. Hemophilia management: Huge impact of a tiny difference. Res Pract Thromb Haemost. 2020;4(3):377-385. doi:10.1002/rth2.12314
  9. Zehnpfennig B. Hitlers „Mein Kampf“ – Eine Interpretation. 3rd ed. Wilhelm Fink Verlag; 2006.
  10. Deutsches Historisches Museum. PLAKAT “DIE PAROLE DER WOCHE / 7.-13. MAI 1936 / EIN WORT DES FÜHRERS ZUM EHRENTAG DER MUTTER.” •
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  16. Cheng AWY, Lai CYY. Parental stress in families of children with special educational needs: a systematic review. Front Psychiatry. 2023;14. doi:10.3389/fpsyt.2023.1198302


    Deutsche Bluthilfe e.V.
    Dr. med. S. Halimeh / Ärztliche Beirätin

    Interessengemeinschaft Hämophiler e.V.
    C. Schepperle / Geschäftsführer